BERLINALE, Tag 3

 

Von Erdhöhlen und Orchideen
(8.2.2003) Dritter Berlinale-Tag: "Io non ho paura" von Gabriele Salvatores, "Adaption" von Spike Jonze und Steven Soderberghs "Solaris"

Von Hartmut Burggrabe

Es beginnt so leicht:
luftige Streichermelodien, südliches Sonnenlicht, grelles Zirpen, Kornfelder, so weit das Auge reicht. Und Kinder, die übermütig durch diese Felder rennen, zwischen den Ähren durchpreschen. Man trifft sich in einem der vielen verfallenen Steinhäuser, die hier, im Süden Italiens, auf den sanften Hügeln stehen. Es gibt Wetten und kleine Mutproben. Ein Paradies für Kinder, diese Landschaft, will man meinen. Doch Michele, der später noch einmal zum Haus zurückkehrt, weil er etwas liegenlassen hat, wird schlagartig eines besseren belehrt: In einer verdeckten Erdhöhle in der Nähe der Ruine liegt ein halb verhungerter Junge, angekettet und kaum noch zum Sprechen fähig. Mit einer Schrecksekunde, die auch das komplette Kinopublikum zusammenfahren läßt, ist es vorbei mit der Leichtigkeit, mit der Idylle, mit dem Vertrauen. Michele hechtet auf sein Rad und rast nach Hause, das heißt in das winzige Dorf seiner Familie und seiner Freunde. Gabriele Salvatores "Io non ho paura" (Ich habe keine Angst) ist kein Kinderfilm, oh nein, man braucht manchmal gute Nerven, um die vor allem seelische Tour de Force dieses Zehnjährigen mitzumachen. Ein Thriller unter gleißender Sonne, nur der unheimliche Gefangene ist schon vom kleinsten Lichtstrahl, der in seine Grotte dringt, geblendet. Michele fährt natürlich doch wieder hin zu diesem Loch, er beginnt, den Fremden heimlich mit Brot und Wasser zu versorgen. Er versucht, mit dem Jungen zu sprechen. Der ist auch zehn Jahre alt, scheint aber schon ziemlich lange aus der Welt gefallen: er wähnt sich schon tot, hält Michele für seinen Schutzengel und wirkt, als er nach mehreren Besuchen endlich unter seinen grauen Decke hervorkriecht, eher wie ein Gespenst denn wie ein wirklicher Junge. Mehr und mehr kommt Michele den beunruhigenden Geheimnissen auf den Grund. Das macht die Sache aber nicht besser. Denn die Spur führt zu Micheles Eltern...
Subtil, packend, spannend ist dieser Film, gleichzeitig berückend ins Bild gesetzt, immer wieder mit italienischem Humor versetzt. Die Kinder, besonders Giuseppe Cristiano als Michele, spielen umwerfend. Kaum merklich erleben wir die ganze Geschichte aus Micheles Perspektive: die Kamera wurde stets auf 1,30 Augenhöhe gehalten, und diese kindertypische Mischung aus Sorglosigkeit und Weiterphantasieren ist in jedem Moment glaubhaft. Im Kontrast der poetischen Bilder mit den schauerlichen Erlebnissen des Protagonisten ist der abrupte Übergang von der kindlichen in die erwachsene Welt auch visuell treffend umgesetzt. Regisseur Gabriele Salvatores, für einen seiner früheren Film bereits mit einem Auslands-Oscar bedacht, macht hier aus einer in Italien sehr erfolgreichen Romanvorlage von Niccolò Ammaniti ein Stück starkes Kino.

Beim zweiten Wettbewerbsbeitrag
des Tages wähnt man sich in einem Spiegelkabinett der Filmbranche. Charlie Kaufman, Drehbuchautor des kongenialen "Being John Malkovich", hat mit "Adaptation" wieder ein aberwitziges Drehbuch verfaßt, daß die spezielle Art von logischen Rückkopplungen, die wir schon aus dem Malkovich-Film kennen, noch auf die Spitze treibt. Wieder führt Spike Jonze Regie, und die Geschichte ist diese: Charlie Kaufman, ein erfolgreicher Drehbuchautor, hängt in einer Schaffenskrise fest. Er ist mit der Drehbuchadaption eines Romans über Orchideenraub beauftragt. Nur wie verwandelt man ein handlungsarmes Buch in eine packende Spielfilmvorlage? Das ist nicht Kaufmans einziges Problem. Er hat es satt, dem Leben nur zuzuschauen, er leidet an seiner Schüchternheit, seinem Körperumfang, seinem immer spärlicheren Haarwuchs. Zu allem Überfluß hat sich sein Zwillingsbruder Donald (beide werden von Nicolas Cage verkörpert) bei ihm eingenistet und arbeitet ebenfalls an einem Drehbuch. Während Charlie sich mit dem eigenen Anspruch einer künstlerischen Weiterentwicklung quält und jegliche Konventionen ablehnt, mixt Donald einfach einige weithin bekannte Zutaten und Elemente zusammen und kann seinen 0815-Thriller teuer verkaufen. Daß dieser eher unreflektierte Donald auch mehr Erfolg beim anderen Geschlecht hat, muß nicht extra erwähnt werden.
Soweit, so gut. "Adaptation" bietet jede Menge Anspielungen, interne wie auch auf reale Personen oder Filme verweisende. Es sind zahlreiche Meta- und Metameta-Ebenen eingeflochten, und dann ist da ja noch der andere Hauptstrang, die Geschichte der Buchautorin Susan Orlean (Meryl Streep), deren Vorlage Charlie bearbeitet. Passiert diese Geschichte real? Geschieht sie in Charlies Imagination? Was hat der eine mit dem anderen Strang des Films zu tun? Zum Lachen und für skurrile Gehirnverenkungen bietet "Adaptation" viel Anlaß. Nicht nur der tatsächlich scheue Eindruck, den der echte Charlie Kaufman in der Pressekonferenz macht, paßt zu diesem Vexierspiel mit Fiktion und Realität (wir erfahren auch, daß er tatsächlich mit einer Dramatisierung der Orchideenreportage beauftragt war). Nicolas Cage brilliert in der Doppelrolle der beiden schreibenden Zwillinge - und trotzdem hat der Film leider auch seine Längen, zieht sich besonders der Susan-Orlean-Strang immer wieder unnötig, so daß das kreative Duo Kaufman/Jonze an den selbstgesetzten Maßstab von "Being John Malkovich" leider nicht heranreicht.  

Eine veritable Enttäuschung
kann man Steven Soderberghs Neuverfilmung "Solaris" nennen. Der Regisseur von "Kafka", "Traffic" und "Ocean's Eleven" hat sich an ein Remake des Tarkowskij-Klassikers gewagt und aus dem vielschichtigen Roman von Stanislaw Lem wieder eine ganz neue Version herausgefiltert. Man muß die beiden Vorgänger nicht kennen, man kann sich auch einfach so auf Soderberghs Variante dieser philosophischen Science-Fiction-Story einlassen. Der Eindruck: irgendwie müde. Der erfolgreiche Psychologe Kelvin (George Clooney, der vor allem, das muß man mal neidlos zugestehen, wirklich gut aussieht) wird von einem alten Freund Gibarian (Ulrich Tukur als Raumforscher) eindringlich um Hilfe gebeten. Auf der Raumstation, die den fernen Planeten Solaris erforschen soll, ist Einiges aus dem Ruder geraten, und Kelvin erfährt auch bald, was: als er die Station erreicht, hat Gibarian bereits Selbstmord begangen, ein anderer (Jeremy Davies mimt wieder einmal den verwirrten Exoten) führt eine rätselhafte Zwischenexistenz, und die Medizinerin des Teams führt hinter verschlossenen Türen seltsame Kämpfe. Auch Kelvin bleibt nicht lange verschont: Die besondere Energie von Solaris macht es möglich, daß die Erinnerungen von Menschen, die sich in seinem Einzugsbereich befinden, lebendig werden. Kelvins längst gestorbene Frau Rheya taucht auf, und trotz anfänglicher Zweifel verfällt Kelvin ihr aufs Neue. Er wittert die Chance einer zweiten Chance - alte Fehler könnte er wieder gutmachen.
Nun gut, mit Science Fiction kann der Autor dieser Zeilen schon bisher wenig anfangen - alles was an "Solaris" aber hätte interessant sein können, die existenziellen Gedanken, die philosophische Seite der Geschichte; das, was "Solaris" also in Richtung von Kubricks "Odysee im Weltraum" hätte prägen können, leuchtet bei Soderbergh leider zu selten auf. Zuviel Gewicht liegt auf der Beziehung zwischen Kelvin und Rheya. Auch die hätte spannend sein können. Zieht man aber die schönen Schauspieler und die futuristische Kulisse ab, bleibt in "Solaris" wenig, was trägt.
Immerhin sorgte diese Premiere für die bislang launigste Pressekonferenz des Festivals, was schon damit begann, daß der Moderator den Regisseur als Steven Spielberg ankündigte, worauf Soderbergh zunächst einmal über "Minority Report" sprechen wollte. Ulrich Tukur war etwas zu aufgedreht, um, wie offensichtlich beabsichtigt, lässig zu wirken. George Clooney spielte routiniert die Rolle des humorvollen 'sexiest man alive' und wurde nur einmal ungehalten, als ein Journalist unverhohlen bekannte, der Film habe ihn gelangweilt. Vielleicht hatte der Regisseur Recht mit seiner Vermutung, dem US-Publikum sei der Film zu europäisch, dem europäischen Publikum dagegen zu amerikanisch. Maybe. Und womöglich trifft auch Natascha McElhones Prognose zu, diesen Film könne man vielleicht erst in zehn Jahren richtig schätzen. Bis dahin ist ja noch etwas Zeit.


Zum Berlinale-Überblick...
 

Io Non Ho Paura/Ich habe keine Angst
von Gabriele Salvatores - Italien/Spanien/GB 2002, 109 min

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mit Giuseppe Cristiano, Matta die Pierro, Aitana Sánchez-Gijón, Dino Abbrescia, Diego Abatantuono

was bedeutet
unsere Wertung?

Adaptation
von Spike Jonze - USA 2002, 117 min

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mit Nicolas Cage, Meryl Streep, Chris Cooper, Tilda Swinton, Clara Seymour, Brian Cox, Judy Greer

was bedeutet
unsere Wertung?

Solaris
von Steven Soderbergh - USA 2002, 98 min

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mit George Clooney, Natascha McElone, Viola Davis, Jeremy Davies, Ulrich Tukur

was bedeutet
unsere Wertung?

 

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