Vom Wesentlichen
(11.2.2003)
Sechster Berlinale-Tag: Patrice Chéreaus "Son Frère", Hans-Christian
Schmids "Lichter" und das niederländische Musical "Ja Zuster, Nee Zuster"
im Wettbewerb
Von Guido Schenkel
Die Berlinale geht in die zweite Halbzeit. Bisher ein überraschend starker
Wettbewerbs-Jahrgang: kaum ein Ausfall, einige wirklich sehenswerte Filme,
und bis zum Ende der Woche (und des Festivals) steht bestimmt noch die
eine oder andere Entdeckung ins Haus.
Heute zum Beispiel. Patrice Chéreau, Opern-, Theater- und vor allem
Filmregisseur, der für "Intimacy" vor zwei Jahren den Goldenen Bären
erhielt, hat mit "Son Frère" (Sein Bruder) erneut einen wirklichkeitsnahen,
intensiven Film gedreht, in dem es um eine Beziehung unter besonderen
Bedingungen und um Körper geht. Luc und sein älterer Bruder Thomas, beide um die
dreißig, haben seit mehreren Jahren keinen Kontakt mehr, als Thomas
unvermittelt bei Luc auftaucht. Er ist krank und bittet Luc um Hilfe. Es steht
etwas zwischen ihnen, das ist zu spüren, etwas, das mit der Vergangenheit
zu tun haben muß. Trotzdem begleitet Luc seinen Bruder am nächsten Morgen
ins Krankenhaus, in dem Thomas schon einmal drei Monate in Behandlung war. Er
leidet an einer seltenen und kaum erforschten Blutkrankheit, die er vor
zwei Jahren schon einmal besiegt hat. Jetzt hat sie ihn wieder im Griff,
und Thomas scheint nicht imstande, diesen Kampf noch einmal alleine
durchzustehen. In den folgenden Monaten begleitet Chéreau das Bruderpaar:
im Krankenhaus, auf kurzen Ausflügen ins elterliche Haus in der Bretagne,
ans Meer. Das alte Verhältnis scheint wieder aufzutauchen, kommt aber
gehörig ins Wanken. Thomas, stets der Schöne, der Stärkere, der Erfolgreiche,
kostet es einige Überwindung, nun ausgeliefert zu sein, Schwäche zu
zeigen, sie sich selbst einzugestehen. Die Krankheit verändert seinen
Körper, sie verändert auch seine Seele, die Gedanken, die Haltungen. Daß
Luc
plötzlich der Starke sein muß, der Helfende, ist auch für den kleinen
Bruder gewöhnungsbedürftig. Nicht selten gelangt auch er an seine Grenzen.
Zumal alte Vorwürfe noch in der Luft hängen. Es gibt offene Gespräche, es
gibt Streit, aber auch Trost, gemeinsame Tränen. Oft wird wenig
gesprochen. Stumme Blicke, in denen Gedanken- und Gefühlswelten
aufschimmern. Die entfremdeten Brüder gehen durch Höhen und Täler, finden
anders zueinander, lernen einander - gegenseitig und sich selbst - neu
kennen. Fremdeln, Vertrautheit... Eric Caravaca (Luc) und Bruno Todeschini (Thomas) spielen sehr dicht und
glaubhaft. Mit feinem, aber ungeschönten Blick zeichnet Chéreau das
Bruderverhältnis, die Krankheit, das Umfeld, die neuen Zweifel und Fragen,
die die ungewohnte Situation ins Rollen bringt. Ein nur selten zäher,
manchmal rauer, in jedem Fall aber ein eindringlicher Film, der im
Zuschauer viel auslösen kann. Der vieles, was im alltäglichen Leben
bedeutsam erscheint, verblassen läßt vor der Endlichkeit und
Beschränktheit des menschlichen Lebens. Und doch ist "Son Frère" weder
philosophisch überfrachtet noch ein pessimistischer Film. Eher:
wesentlich.
Derart geerdet, hat es der wenig später folgende Film beim Zuschauer nicht
unbedingt leicht. Und erweist sich doch als Steigerung. Hans-Christian
Schmids "Lichter" gehört im bisherigen Wettbewerb ganz sicher zu
den besten Filmen. Nachdem Schmid mit "Nach fünf im Urwald" (1996), "23"
(1998) und "Crazy" (2000) drei wunderbare Coming-Of-Age-Geschichten
erzählt hat, wendet er sich mit diesem Film einem anders gelagerten Sujet
zu. "Lichter" ist ein Episodenfilm. Sechs Geschichten laufen parallel.
Erstaunlicherweise funktioniert das nicht nur. Schmid und sein Mitautor
Michael Gutmann erweisen sich als Virtuosen dieser Erzählform, als Meister
der genauen Beobachtung. Die Protagonisten der sechs Stränge verbindet
vor allem eins: ihr Leben spielt sich, zumindest in diesen zwei Tagen, im
deutsch-polnischen Grenzgebiet, in Frankfurt/Oder bzw. dem östlich
anschließenden Slubice ab. Es gibt eine Gruppe ukrainischer Flüchtlinge,
die von Schleppern bis kurz vor die Grenze gebracht wurde und die jetzt
nur noch wenige Kilometer vom ersehnten 'Glück' trennt: die Grenze ins
Wohlstandseuropa ist aus dieser Richtung nur schwer zu passieren. Dann ist
da ein polnisches Ehepaar, er Taxifahrer, sie frisch gekündigt, das
verzweifelt versucht, Geld aufzutreiben für das Kommunionskleid der
Tochter. Oder der verbitterte Jungunternehmer in Frankfurt, der den
Bankrott seines Matratzengeschäfts auch durch Werbeaktionen in der
Fußgängerzone nicht aufhalten kann. Katharina, die, aus einem Heim weggelaufen,
bei einem Vater und seinen zwei Söhnen Unterschlupf findet, die sich mit
gebrauchten Autos und Zigarettenschmuggel über Wasser halten. Die
Architekten aus Berlin, die einen Investor mit Damenbesuch bestechen, um
seinen Großauftrag zu erhalten. Klingt, derart verkürzt, alles ziemlich
deprimierend. Das Erstaunliche an "Lichter" ist, daß es trotz der Schwere
seiner Themen kein düsteres Drama geworden ist, daß es trotz seinem
politischen Gehalt beileibe kein Thesenfilm ist. Stattdessen: unglaublich
vielschichtige und dennoch begreifbare Handlungen, ungewöhnlich
differenzierte Charaktere und Dialoge, eine meisterhafte Verknüpfung der
verschiedenen Ebenen und Themen. Bei aller gesellschaftlichen Relevanz ist
"Lichter" nie plakativ, sondern rückt die Beziehungen zwischen Menschen in
den Mittelpunkt. Schmid und Gutmann nehmen jede ihrer Figuren ernst und
verzichten trotzdem auf bedeutungsschwanger triefenden Pathos. Die
Unterscheidung in gute und schlechte Menschen gibt es nicht. Fast jede und
jeder wird von den Umständen gezwungen, selbst die, die einem helfen,
selbst den, dem man eigentlich helfen will, auch einmal übers Ohr zu
hauen. Ein hoffnungsloser Film also? Nein. Aber ein ehrlicher,
lebensnaher. Dazu gehört wohl, daß einige der Figuren tatsächlich mit
osteuropäischen Schauspielern besetzt sind. Auch für die Kamera zeichnet
ein polnisches Jungtalent (Bogumil Godfrejow) verantwortlich.
Kann man diesen Film in einer Kritik umreißen? Kaum. Allein das
Schauspielensemble - Ivan Shvedoff, August Diehl, Julia Krynke, Maria
Simon, Julia Krynke, Alice Dwyer, Devid Striesow und andere - ist eine Wucht. Diese "Lichter":
ein absolutes Highlight dieser Berlinale.
Und dann kommt sie doch noch, die Enttäuschung. "Ja Zuster, Nee Zuster"
(Ja Schwester, Nein Schwester), der niederländische Wettbewerbsbeitrag
von Pieter Kramer, ist ein Musical. Ein Musical im Milieu 'einfacher
Leute', bonbonfarben überzeichnet und manchmal sogar ins Ironische
hinüberflackernd. Klivia, von allen Zuster (Schwester) Klivia genannt,
beherbergt einige arme Leute in ihrer sozialen Pension, irgendwie schräge
Typen natürlich. Meistens im Keller sitzt beispielsweise der Mann, den
alle nur den 'Ingenieur' nennen. Er experimentiert an einer Pille herum,
die einen bösen Menschen schlagartig in einen guten verwandelt, darf sie
aber, so die strenge, aber gerechte Klivia, nicht an Menschen
ausprobieren. Desweiteren gibt es Jet, die sich in den jungen Einbrecher
verliebt, den Schwester Klivia eines Nachts auf frischer Tat in ihrer
Pension erwischt. Noch in der selben Nacht zieht der Einbrecher auch bei
Schwester Klivia ein. Sehr zum Leidwesen des stets genervten Nachbarn
Boordevol, der ständig versucht, die seltsame Wohngemeinschaft vor Gericht
zu bringen und Schwester Klivia hinter Gitter. An Boordevol werden die
Probleme des Films besonders offensichtlich: seine Figur ist derart
überzeichnet, daß Mimik und Sprache doch vor allem platt, plump wirken.
Komisch ist das nicht. Eher anstrengend. Die eine oder andere Musiknummer
- gesungen und getanzt wird ständig - mag mitreißend sein, im Ganzen aber
sitzt man eher unbeteiligt vor der Leinwand. Zu künstlich oder nicht
künstlich genug? So oder so vor allem: belanglos.
Zum Berlinale-Überblick...
Son Frère
von Patrice Chéreau -
Frankreich 2002, 95
min |
°°°° |
mit
Bruno Todeschini, Eric Caravaca, Maurice Garrel, Antoinette Moya,
Fred Ulysse, Nathalie Boutefou, Sylvain Jacques u.a. |
was
bedeutet
unsere Wertung? |
Lichter
von Hans-Christian Schmid -
BRD 2002, 105
min |
°°°°° |
mit
Ivan Shvedoff, Sergej Frolov, Anna Janowskaja, Sebastian Urzendowsky,
Alice Dwyer, August Diehl, Herbert Knaup, Julia Krynke, Henry
Hübchen, Maria Simon, Janek Rieke, Zbigniew Zamachowski, Aleksandra
Justa, Malusia Zamachowski, Devid Striesow, Claudia Geisler, Martin
Kiefer, Tom Jahn u.a. |
was
bedeutet
unsere Wertung? |
Ja Zuster,
Nee Zuster
von Pieter Kramer -
Niederlande 2002, 104
min |
°° |
mit
Loes Luca, Paul R. Kooji, Paul de Leeuw, Tjitske Reidinga, Waldemar
Torenstra, Lennart Vader, Edo Brunner u.a. |
was
bedeutet
unsere Wertung? |
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