BERLINALE, Tag 4

 

Hinter den Fassaden
(9.2.2003) Vierter Berlinale-Tag: "The Hours" und "Good Bye, Lenin!" im Wettbewerb, "Moonlight Mile" im Panorama

Von Hartmut Burggrabe

"Er kennt das Leben, er war im Kino." Am vierten Tag erwischt es einen dann doch kurz, das Festivalsyndrom. Man fühlt sich an diese Zeile eines Fehlfarben-Songs erinnert. Das Privileg, seine gesamte Wachzeit im Kino zu verbringen, wird seltsam selbstverständlich, mit jedem Morgen fällt das Aufstehen schwerer, täglich aufs Neue in ein Dutzend Leben einzutauchen, dazu die Vielfalt der Sprachen, das verlangt Energie. Rituale: Film, Pressekonferenz, Film, Pressekonferenz, ein kurzer Imbiß, eine Kritik schreiben und wieder ein Film. Maßstäbe verschwimmen: Bin ich überhaupt noch imstande, jedem Film gerecht zu werden, den ich sehe? Hängt meine Beurteilung nicht auch davon ab, ob ein Film am frühen Morgen, im Mittagszwischentief oder spät in der Nacht gezeigt wird? Heute im Morgengrauen also der Beschluß: Bevor sich Routine einschleicht, lieber einen Gang zurückschalten. Heute nur zwei Wettbewerbsfilme. Zwei große Filme, um es gleich vorwegzunehmen.

Zum einen "The Hours".
Stephen Daldry, der schon mit "Billy Elliot" einen Coup landete, verfilmte einen Roman von Michael Cunningham. Die Schriftstellerin Virginia Woolf steht im Mittelpunkt dieser Geschichte, oder vielmehr dieser Geschichten. Drei scheinbar unabhängige Stränge laufen parallel. Wir sehen Virginia Woolf, von den Ärzten als geisteskrank eingestuft, wie sie um ihren Roman "Mrs. Dalloway" ringt, wie sie mit den Stimmen kämpft, die sie hört, wie sie sich, scheu und sprunghaft, zwischen den Menschen bewegt, die sie umgeben. Leonard, ihren Mann, dann ihre Schwester und deren Kinder, die Bediensteten des Hauses. Anderer Ort, eine Generation später: Laura Brown leidet unter der Leere ihres scheinbar so kompletten Lebens. Es gibt einen Gatten, ein Haus mit Garten, einen goldigen Sohn, und ein weiteres Kind ist unterwegs. Laura liest gerade "Mrs. Dalloway", und als ihre beste Freundin aus heiterem Himmel für eine Geschwüroperation ins Krankenhaus muß, ist eins klar: Es stimmt Einiges nicht in Lauras Leben. So kann sie nicht weiterleben. Die dritte Frau, Clarissa Vaughan, wird von ihrem guten Freund und Weggefährten Richard seit jeher "Mrs. Dalloway" genannt. Treffender, als Clarissa wahrhaben will. Wie ihre 'Schwester' aus Virginia Woolfs Roman steckt sie nämlich in Vorbereitungen für eine große Party, mit der sie vor allem eines übertünchen will: ihre Einsamkeit. Dabei ist der Literaturpreis, den Richard an diesem Tag erhalten soll, ein willkommener Vorwand zum Feiern. Richard lebt seit einigen Jahren aidskrank und zurückgezogen in einer schäbigen Wohnung. Clarissa ist seine einzige Verbindung zur Außenwelt, die beiden verbindet Erinnerungen an gemeinsame, lang zurückliegende Studienzeiten. Diese drei Frauen und ihr Umfeld begleiten wir also einen wesentlichen Tag ihres Lebens, so wie es auch Virginia Woolfs Idee beim Verfassen der "Mrs. Dalloway" war. Wie im Roman wird auch im Leben seiner 'Nachfahrinnen' jemand sterben. Vorhersehbar ist hier allerdings nichts. Und trotz der herben, existentiellen Themen ist "The Hours" kein düsterer, kein deprimierter Film. Äußerst kunstvoll sind die drei Stränge miteinander verflochten, die minimalistische Musik von Philip Glass untermalt nicht, sie erhöht noch die Intensität, nimmt uns mit in die inneren Zustände der drei Frauen, ohne uns mit dem Holzhammer Emotionen aufzuzwingen. Meryl Streep als Clarissa, Julianne Moore als Laura geben ihren Figuren lebensechte Charaktere. Vor allem aber verkörpert Nicole Kidman, schon äußerlich kaum wiederzuerkennen, eine atemberaubende Virginia Woolf, in deren fragiler Verletzlichkeit und Sensibilität die Abgründe wie die Lichtblicke dieser Ausnahmefrau aufblitzen. Dringend preisverdächtig, diese Frau, und der Film als Ganzes in jedem Fall sehenswert.

Einiger medialer Trommelwirbel
war dem zweiten Film dieses Wettbewerbstags vorausgegangen: "Good Bye, Lenin!" unter der Regie des Berliners Wolfgang Becker. Dessen letzter und überaus erfolgreicher Film "Das Leben ist eine Baustelle" liegt mittlerweile 6 Jahre zurück. Wenn sich einer soviel Zeit nimmt, um an einem neuen Projekt zu feilen, steigen die Erwartungen natürlich. Dazu noch der erste deutsche Film im diesjährigen Wettbewerb - den internationalen Vergleich braucht "Good Bye, Lenin!" wirklich nicht zu scheuen. Becker und sein Drehbuchautor Bernd Lichtenberg erzählen darin vom Ostberliner Alex Kerner (Daniel Brühl), der 1989 um die zwanzig ist. Seine Mutter (Katrin Saß), die sich mit dem sozialistischen 'Projekt' sehr identifiziert hat, fällt am 7. Oktober, dem Abend des 40jährigen DDR-Bestehens, in ein Koma, aus dem sie erst acht Monate später wieder aufwacht. Sie verschläft also im wörtlichen Sinn die Revolution, die Wende, den Mauerfall, den Zusammenbruch 'ihres' Landes. Als sie dann aufwacht, lassen die Ärzte sie nur widerwillig nach Hause, sie muß im Bett bleiben, und, das bekommen Alex und seine Schwester eingeschärft, jede mögliche Aufregung muß von ihr ferngehalten werden. Eins steht fest: Von den politischen Umwälzungen darf Mama erstmal nichts erfahren. Alex beginnt also, für die Mutter eine Rundum-Illusion aufzubauen: DDR-Lebensmittel müssen beschafft werden, neue Folgen der Aktuellen Kamera werden mit einem Freund nachgefilmt, die Pioniere kommen zu Mutters Geburtstag, um ein sozialistisches Ständchen zu singen. Dieses Spiel muß natürlich zu Komplikationen führen.
Nun hätte man aus diesem Stoff eine große Klamotte machen können, mit pausenlos aufeinander folgenden Pointen und aberwitzigem Klamauk. Aber wir sind bei Wolfgang Becker, und das heißt: natürlich gibt es Einiges zu lachen, gleichzeitig behält die Geschichte eine ernsthafte Tiefe, nachdenkliche Sequenzen, melancholische Momente. Auf der Pressekonferenz meinte ein Journalist, er sehe "Good Bye, Lenin!" in erster Linie als eine Liebesgeschichte - eine Liebesgeschichte zwischen Mutter und Sohn. Tatsächlich hat es auch etwas Rührendes, wie Alex mit allen Mitteln versucht, den Traum der Mutter zu erhalten und, unterstützt von der wieder bezaubernden Musik von "Amélie"-Komponist Yann Tiersen, den Wirren dieser Umbruchszeit eine Insel der Ruhe abzutrotzen. Manchmal nimmt sich der Film dabei etwas zuviel Zeit, macht einen Schlenker zuviel. Auch an der etwas behäbigen Erzählstimme aus dem Off hätte man manches sparen können. Dennoch: Wie diese Geschichte montiert ist; die zahlreichen Querverweise und Anspielungen; die Darstellung dieser kleinen Familie, in deren Leben der Wind der Geschichte hineinbraust - das ist Wolfgang Becker virtuos gelungen. Dazu das präsente Spiel der Hauptdarsteller Daniel Brühl und Katrin Saß - "Good Bye, Lenin!" hat nicht nur beim deutschen (vielleicht etwas voreingenommen) Premierenpublikum begeisterten Applaus ausgelöst. In den deutschen Kinos startet die melancholische Komödie bereits am 13. Februar. Es dürfte einer der Erfolge dieses Kinojahres werden.

Ein weiteres Familiendrama
, etwas anders gelagert allerdings, im Panorama. Mit "Moonlight Mile" hat Brad Silberling ("Casper", "Stadt der Engel") eigene Erfahrungen verfilmt, und die wünscht man keinem: Joes Freundin und Verlobte Diana wird wenige Tage vor der geplanten Hochzeit von einem Fanatiker irrtümlich erschossen. Nach der Beerdigung fühlt sich Joe seinen Fast-Schwiegereltern irgendwie verpflichtet, zieht für eine Weile zu ihnen und steigt sogar in das Immobiliengeschäft von Dianas Vater ein. Im Gegensatz zu Joe kommen die Eltern mit dem Tod ihrer Tochter überhaupt nicht zurecht. Die Mutter verfällt in Zynismus und Selbstmitleid, der Vater stürzt sich um so mehr in Arbeit, um die Leere, die Haltlosigkeit gar nicht erst bemerken zu müssen. Joe wird so etwas wie ein Ersatzsohn, doch sein Versuch, es jedem recht zu machen und so den Eltern den Verlust zu erleichtern, beginnt, aus dem Ruder zu laufen. Er selbst kommt in diesem Spiel nämlich immer weniger vor. Was will er selbst denn eigentlich? Immobilien makeln? Bestimmt nicht. Auf ewig den Tochterersatz geben? Es gibt da auch noch eine wichtige Sache, die er den Schwiegereltern endlich gestehen sollte. Und dann taucht da Bertie auf, die bezaubernde Postbotin, die ebenfalls mit eigener Trauer zu kämpfen hat.
"Moonlight Mile" dreht sich um verschiedene Möglichkeiten des Trauerns und Verdrängung, um zaghafte Versuche, wieder im Leben Fuß zu fassen, um die manchmal sehr kurzen Übergänge vom Lachen zum Weinen, von der Wut zum Mut, und umgekehrt. Elegant gefilmt, in unspektakulären Szenen, ist Silberlings Film eher ein Kammerspiel, Schauspielerkino. Daß ihm dabei drei Oscar-Preisträger zur Seite stehen, nämlich Susan Sarandon und Dustin Hoffman als Eltern und Holly Hunter in einer Nebenrolle, gibt dieser Thematik das Format, das es verdient hat. Vor allem Jake Jake Gyllenhall beeindruckt aber als Joe, und wäre da nicht das etwas ärgerliche Ende, hätte man "Moonlight Mile" bedenkenlos weiterempfehlen können.


Zum Berlinale-Überblick...
 

The Hours
von Stephen Daldry - GB 2002, 110 min

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mit Meryl Streep, Julianne Moore, Nicole Kidman, Ed Harris

was bedeutet
unsere Wertung?

Good Bye, Lenin!
von Wolfgang Becker - BRD 2002, 118 min

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mit Daniel Brühl, Katrin Saß, Maria Simon, Chulpan Kamatova, Florian Lukas, Alexander Beyer, Burghart Klaußner

was bedeutet
unsere Wertung?

Moonlight Mile
von Brad Silberling - USA 2002, 116 min

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mit Jake Gyllenhall, Dustin Hoffman, Susan Sarandon, Holly Hunter, Ellen Pompeo

was bedeutet
unsere Wertung?

 

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