BERLINALE, Tag 2

 

Überlebenskämpfe allerorten
(7.2.2003) Zweiter Tag im Wettbewerb der Berlinale: "In This World", "The Life of David Gale" und "Hero". Und Jackie Chan im Panorama.

Von Hartmut Burggrabe

Nein, diese drei Filme verbindet wenig. Afghanische Flüchtlinge, ein Todeshäftling in den USA und spirituelle Kampfkunst standen im Mittelpunkt des zweiten Wettbewerbstags der diesjährigen Berlinale. Die ernsten Themen hielten also Einzug - und das neueste asiatische Kino.

Zunächst ist da
  das sehr ungewöhnliche Filmprojekt von Michael Winterbottom, der zuletzt 2001 mit "Das Reich und die Herrlichkeit" in der Berlinale vertreten war. Mit "In This World" wagt er sich an ein heißes Eisen und erzählte halb dokumentarisch, halb fiktiv die Geschichte einer langen Flucht: Pakistan, 2002: Jamal und Enayat, zwei afghanische Jugendliche, die seit Jahren in einem Flüchtlingscamp leben, verlassen ihre Familien und machen sich auf den Weg. Ihr Ziel: ein besseres Leben. Freunde von Freunden kennen Leute, die das professionell betreiben, die organisierte Flucht. Ein ganzes Netzwerk von Schleppern, könnte man sagen. Und doch bleiben Jamal und Enayat auf sich gestellt. Sie erfahren einen Namen, zahlen Geld, der Name nimmt sie ein Stück mit, und wieder sind sie in der völligen Fremde. Über Teheran und den Nordiran soll es in die Türkei gehen, von dort weiter mit dem Schiff. Und dann? Weiter als an den Abend zu denken, macht in so einem Leben keinen Sinn. Es gibt Rückschläge, Kontrollen, es gibt Schüsse, flüchtige Bekanntschaften, eine Nacht im Containerreisen, in der der Sauerstoff ausgeht... und dann wieder eine Oase der Hilfsbereitschaft, ein fast unbeschwertes Fußballspiel im Wüstensand. Witterbottom erzählt die Odyssee der beiden ohne Klischees, ohne zu urteilen - und vor allem, als wäre es ein Dokumentarfilm: seine Protagonisten sind echte Bewohner des Flüchtlingscamps, sie sprechen Pashtun und ein kleines bißchen Englisch, über weite Strecken ist der Film also untertitelt und wirkt, gerade auch durch das Spiel der beiden Hauptdarsteller, äußerst glaubhaft. Gedreht wurde mit Handkamera und Nachtsichtgerät, ohne künstliche Beleuchtung - selten waren diese Formentscheidungen so angebracht wie hier. "In This World" macht nicht nur begreiflich, er macht in Ansätzen erlebbar, was es heißt, alles Vertraute hinter sich zu lassen, was Menschen trotzdem dazu treibt; man ahnt, was es bedeutet, das Wagnis so einer Flucht einzugehen. Am Ende mag man kaum glauben, daß das, was man gerade gesehen hat, für Tausende von Menschen, an vielen Ecken der Welt, bitterer Alltag ist, daß ein Leben auch so aussehen kann. In unserer Zeit! In this World! Wie diese Flüchtlinge dann im ach so humanen Europa aufgenommen werden, ist, milde gesagt, eine Schande. Einer der beiden schafft es am Ende bis London. Und steht doch erst am Anfang.

In einer ähnlichen Haltung
holzhammerfreier Engagiertheit kommt "The Life of David Gale" daher, der Wettbewerbsbeitrag des Brit-Amerikaners Alan Parker ("Mississippi Burning", "The Commitments", "Evita"). Man merkt schon, wir sind zurück in Hollywood: glatte Kameraführung, ein konventioneller Soundtrack, der in dramatischen Momenten besonders viele Streicher auffährt. Und dennoch ist auch dieser Film überraschend komplex und differenziert. David Gale, Universitätsprofessor und engagierter Kämpfer gegen die Todesstrafe, ist selber zum Tode verurteilt, wegen Vergewaltigung und Mord an einer Mitstreiterin bei "Death Watch". Eine Woche vor der Hinrichtung bietet Gales Anwalt einer couragierten und ehrgeizigen Journalistin ein Exklusivinterview mit seinem Mandanten. Drei Tage lang soll sie den inhaftierten Wissenschaftler befragen und sich erzählen lassen, was dieser noch nicht einmal vor Gericht zu Protokoll gab. Mit Zweifeln willigt die Journalistin ein - und muß in der Folge erleben, wir ihr feststehendes Urteil über diesen Verbrecher nicht nur ins Wanken kommt, sondern wie sie immer mehr zur Überzeugung kommt: Dieser Mann wurde unschuldig verurteilt. Diesem Mann muß, solange es noch geht, geholfen werden! Was Gale der Journalistin in den drei Sessions berichtet, sehen wir in (natürlich subjektiven) Rückblenden, die den Großteil des Films ausmachen. Zwischen den Gesprächen werden die Reporterin und ihr Praktikant von beunruhigenden Zufällen und Hinweisen verfolgt. "The Life of David Gale" wird immer mehr zum Thriller. Mehr von der Handlung zu verraten, wäre nicht freundlich - wer die Möglichkeit hat (Kinostart in Deutschland ist der 13.3.03), möge sich den Film selber anschauen. Das eindringliche Spiel von Kevin Spacey ("American Beauty", "Schiffsmeldungen") als David Gale, Laura Linney als seiner Mitstreiterin Constance und der wieder großartigen Kate Winslet als Reporterin Bitsy Bloom macht "The Life of David Gale" zum Ereignis.

Zum letzten Wettbewerbsbeitrag
dieses Tages war es dann doch ein größerer Sprung. "Hero", ein neuer und neuartiger Kung-Fu-Film, oder, wie es der Filmkomponist Tan Dun treffender sagte: eine Kung-Fu-Oper. Was in Hongkong und China eine jahrzehntelange Tradition hat - actionreiche Kampfkunstfilme, die oft auf alten Romanen oder Comics basieren - wurde in Europa und Amerika zum einen mit Jackie Chans Martial-Arts-Komödien ("Rush Hour"), zum anderen mit Ang Lees gefeierten "Tiger & Dragon" (2000) populär. Eher an den letzteren erinnert nun Zhang Yimous Epos aus der "Epoche der sieben kämpfenden Staaten", grauer Vorzeit chinesischer Geschichte. Ein Kung-Fu-Virtuose namens "Nameless" wird vor den Kaiser geladen, nachdem er dessen drei Erzfeinde besiegt hat. Diese tragen die sprechenden Namen Broken Sword, Sky und Flying Snow und galten bis dahin als unbesiegbar. Selbst die mehrere tausend Kopf starken Truppen des Kaisers waren ihren Kampfkünsten nicht gewachsen. Wie also konnte Nameless sie unterwerfen? Als der Held zu berichten beginnt, setzt ein Reigen der Legenden und Geschichten ein, die der Kaiser mal glaubt, mal nicht glaubt, die er richtigzustellen verlangt oder eine eigene Episode hinzufügt. Vier große Varianten der Geschehnisse bekommen wir zu sehen. Nicht immer (das mag an der kulturellen Differenz zwischen China und unseren Denkgewohnheiten liegen) kann man diesen Geschichten folgen, bisweilen wirkt das Ganze auch eher krude und zäh. Nicht weniger als berauschend ist allerdings die visuelle Umsetzung gelungen: poetische, kraftvolle Bilder, atemberaubend vor allem die Kampfszenen, die, das ist Regisseur Zhang Yimou großartig gelungen, nur wenig mit bewährter Kung-Fu-Ästhetik zu tun haben. Stattdessen wird die geistige Dimension, die mentale Energie der Kampfkunst sichtbar. Kung-Fu als spirituelle Ausdrucksform, als Symbolik der Farben, als Philosophie. Das Laub eines goldenen Herbstwaldes gerät da in den Sog der durch die Luft wirbelnden Kämpferin, Wassertropfen erstarren in der Luft und lassen Schwertklingen klirren. Optik und Sound des Films sind vom Feinsten, können durchaus mit Werken wie dem "Herrn der Ringe" mithalten und zeigen doch, daß man all die Technik, all die Effekte auch anders einsetzen kann: feiner, tänzerischer und dabei nicht weniger packend. Wenn nur anderen Passagen des Films nicht so zäh wären...

Um dieses Genre von einem ganz anderen Ende noch einmal aufzugreifen, kam am gleichen Tag auch noch Martial-Arts-Star Jackie Chan nach Berlin. Er stellte in der Panorama-Reihe die Dokumentation "Traces of the Dragon: Jackie Chan and his lost family" vor. Mabel Cheung begleitete Jackie Chan auf einer ungewöhnlichen Reise zu seinen eigenen Wurzeln. In Hongkong aufgewachsen, hielt sich der Großmeister der Kung-Fu-Action sein Leben lang für ein Kind der Enklave. Bis ihm vor wenigen Jahren sein Vater, todkrank, offenbarte, daß Chans Wurzeln weit nach China führten. Wie bei vielen anderen (Exil-) Chinesen wurde Chans ursprüngliche Familie in den Wirren der Kulturrevolution auseinandergerissen, der junge Jackie Chan (der eigentlich anders hieß) wurde nach Hongkong verfrachtet, während sein Vater als Spion arbeitete und auch die neue Mutter nur scheinbar die harmlose Hausfrau war. Ursprünglich wollte Jackie Chan diesen Film nur für seine eigene Familie drehen lassen, für seine Kinder, für spätere Enkel. Als sich aber die wahre Dimension seiner Familiengeschichte abzeichnete und Allgemeingültigkeit eines solchen Schicksal, entschlossen sich Chan und Regisseurin Cheung, mit dem Dokument an die Öffentlichkeit zu gehen, an Universitäten und Schulen - und in ein Filmfestival wie die Berlinale. Jackie Chan, sonst im engeren Wortsinn stets schlag-fertig, präsentierte sich denn auch eher nachdenklich bis verunsichert: Nein, mit seinen Halbbrüdern in China wolle er weiterhin keinen Kontakt knüpfen. Keine Zeit, so die wenig glaubhafte Ausrede. Es gebe so viele Filmprojekte zu realisieren, bis zum 60. oder 70. Geburtstag sei er ausgebucht. Auch ein Actionstar hat seine verletzlichen Seiten.

Zum Berlinale-Überblick...
 

In This World
von Michael Winterbottom - GB 2002, 90 min

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mit Jamal Udin Torabi, Enayatullah u.a.

was bedeutet
unsere Wertung?

The Life of David Gale
von Alan Parker - USA 2002, 131 min

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mit Kevin Spacey, Kate Winslet, Laura Linney, Gabriel Mann, Matt Craven, Leop Rippy, Rhona Miltra, Melissa McCarthy u.a.

was bedeutet
unsere Wertung?

Hero (Ying Xiong)
von Zhang Yimou - Hongkong/VR China 2002, 98 min

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mit Jet Li, Tony Leung Ka-Fai, Maggie Cheung, Zhang Ziyi

was bedeutet
unsere Wertung?

 

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