KRITIK

Mitte Zwanzig, Großstadt
PERSPEKTIVE DEUTSCHER FILM: "Wir" von Martin Gypkens

Ein Film mit einem Dutzend Hauptpersonen? Geht das? Es geht. Sogar sehr gut! Martin Gypkens, Autor und Regisseur, ist, um es gleich zu sagen, mit seinem Langfilmdebüt "Wir" ein, ja, ein großer Wurf gelungen. Und das nicht obwohl, sondern gerade weil sein Thema, seine Figuren nicht besonders spektakulär sind. Nicht obwohl, sondern gerade weil durchweg unbekannte, unverbrauchte Schauspielerinnen und Schauspieler zu sehen sind. "Wir" erzählt von einigen Menschen Anfang, Mitte Zwanzig, die in Berlin leben; die auf der Suche sind: nach dem richtigen Lebensentwurf, dem richtigen Job, dem richtigen Studienfach, nach der Liebe. Was dieses Dutzend junger Menschen verbindet: sie bilden einen mehr oder weniger lockeren Freundeskreis. Es sind Paare darunter, gute Freunde, die sich schon aus der Schulzeit in der 'Provinz' (hier: Aachen) kennen, manche, die ganz neu in die Runde geschneit sind und andere, die schon wieder daraus verschwinden. Manche wohnen zusammen in WGs, andere alleine in (seit drei Jahren) unverputzten, 'improvisierten' Altbauwohnungen. Man trifft sich auf Wohnzimmerparties, in Clubs, läuft sich in der Stadt über den Weg oder jobbt im gleichen Callcenter. Zwei der Freunde planen zusammen einen Film. Mal mehr, mal weniger nehmen die Freunde am Leben der anderen teil, geben sich Rat oder Trost oder aber wollen mit Problemen nicht belästigt werden. Das Schöne und Besondere an diesem Ensemblefilm, der uns einen Sommer lang in diesen Freundeskreis mitnimmt, ist, wie all die Geschichten dieser Einzelnen, der Paare, Gruppen und Trennungen, all die Ereignisse und auch die Nuancen miteinander verstrickt, verwoben, verbunden werden. Was wir mit Florian, Pit, Judith, Carsten, Petronella, Micky und den anderen erleben, wirkt weder gekünstelt und überfrachtet noch banal oder langweilig. Martin Gypkens und sein Ensemble trifft es einfach. Es gibt die ernsten Gespräche, es gibt überschwängliche Parties, es gibt Affären, es gibt kleine Running Gags - Spaß und Lebensernst, Unbekümmertheit und Selbstzweifel stehen nebeneinander, schließen sich aus, heben sich nicht gegenseitig auf. Wie es im wirklichen Leben eben auch ist. "Wir" zeigt die auch die Fassaden und Rituale, die sich jeder zugelegt hat. Und doch regt sich keine allwissende Moral, die die Entscheidungen des Einen oder den Weg einer Anderen befürwortet oder verurteilt, am Ende als 'richtig' oder 'falsch' hinstellt. Stattdessen beobachtet dieser Film fein und genau, ohne deshalb (auch was die Montage, die Kamera, die Musik betrifft) seine Leichtigkeit zu verlieren. Ohne daß er unübersichtlich wird. Daß so ein Freundeskreis immer in Bewegung bleibt, die Beziehungen nie statisch ist, hält ihn wahrscheinlich am Leben. Daß man darin als Einzelner dennoch manchmal alleine stehen kann, zeigt sich auch. Nicht nur, wenn es mal ganz wesentlich wird, existentielle Entscheidungen anstehen, sind die Einzelnen letztlich doch auf sich selbst zurückgeworfen. Es ist brüchig, dieses "Wir", das der Titel postuliert. Und doch ist es da. Eine Art Netz, in das man eingebettet ist. Manchmal zerrt es an einem, dann wieder federt es das eigene Stolpern ab. Und dann ist es ja auch der Stoff, aus dem die Glückssträhnen gemacht sind. Die kleinen, die Augenblicke, und die großen.
Mitte Zwanzig, Großstadt: Mit Sicherheit findet sich in diesem Film, in einer seiner Figuren oder Episoden so manche Zuschauerin, so mancher Zuschauer wieder. "Wir" ist ein 100minütiger Glücksfall. Ein vielversprechendes Regiedebüt, und auch von den frischen Schauspielerinnen und Schauspielern möchte man gerne mehr sehen.
Hartmut Burggrabe


 

Wir
von Martin Gypkens - BRD 2003, 100 min

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mit Oliver Bockern, Rike Schmid, Jannek Petri, Knut Berger, Karina Plachetka, Lilia Lehner, Brigitte Hobmeier, Sebastian Songin, Sebastian Reiß, Patrick Güldenberg, Lars Löllmann, Rüdiger Rudolph u.a.

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