Kästner zum
Dritten
Tomy Wigands Kästner-Neuverfilmung
"Das fliegende Klassenzimmer"
In den letzten Jahren hat sich im deutschen Kino so etwas wie ein neues
Genre herausgebildet: Neuverfilmungen der Kinderbuchklassiker von Erich
Kästner. Die Reihe begann mit Caroline Links bezaubernder Version von
"Pünktchen &
Anton"
(1999), setzte sich in Franziska Buchs etwas
schwächerem "Emil und die Detektive" (2001) fort und findet nun ihren
vorläufigen Schlußpunkt im "Fliegenden Klassenzimmer" unter der Regie von
Tomy Wigand. Diese drei Filme verbindet nicht nur der Autor der
Romanvorlage und seine Motive. Es gibt auch bestimmte Szenen, Schauplätze,
Konstellationen, die die Schöpfer der Neuverfilmungen immer wieder
aufgreifen. Das mal mehr, mal weniger behutsame Aktualisieren der in den
1920er, 1930er Jahren entstandenen Stoffe ist auch so eine Gemeinsamkeit. Im
"Emil" geriet das zum Teil arg zeitgeistig, wenn etwa Emils Bande mit
einem holprigen Rap durch Berlin skatete. Caroline Link dagegen und jetzt
auch Tomy Wigand und seine Drehbuchautoren verstanden zum Glück, daß das
Wesentliche der Kästnerschen Geschichten universell und immer noch gültig
ist, daß sich seine Themen - Menschlichkeit etwa und
Freundschaft - auch ohne spektakulären Klimbim erzählen lassen, vielleicht
sogar besser ohne.
"Das fliegende Klassenzimmer" hat Erich Kästner einmal als sein bestes
Kinderbuch bezeichnet, und vielleicht hat er nicht Unrecht. Die
vielschichtige Geschichte von den Freunden im Internat, die zu spüren
bekommen, daß entgegen landläufiger Erwachsenenmeinung die Kindheit, die
Jugend keinesfalls nur ein rosiges Zuckerschlecken bedeutet, ist spannend,
humorvoll, anrührend und vor allem herzlich. Es gibt rivalisierende
Banden, es gibt Schneeballschlachten und Mutproben, es gibt ernste
Gespräche über die Scheidung der Eltern, es gibt den wunderbar
warmherzigen Lieblingslehrer Dr. Bökh, auch Justus, der Gerechte genannt,
und diesen seltsamen Mann mit dem Spitznamen "Nichtraucher", der in einem
ebensolchen Eisenbahnwaggon lebt. Kleine und große Dramen, Frechheiten,
Streiche und Abenteuer erzählt diese Geschichte. Das nicht geringe Wagnis,
nach zwei schon klassischen Verfilmungen (1954 und 1973) noch eine dritte
zu versuchen, erweist sich als Glücksfall. Wigand und seine Crew
verzichten nämlich auf plakative Gefühle, widerstehen den Verlockungen von
dick aufgetragenem Kitsch und transportieren so die Kästnersche
Feinsinnigkeit und das Kästnersche Augenzwinkern umso wirksamer auf
die Leinwand. Unterstützt werden sie dabei von der wieder einmal
treffenden Filmmusik Niki Reisers ("Jenseits der Stille", "Pünktchen &
Anton") - und von einer ganzen Reihe großartiger Schauspieler. Ulrich
Noethen, nach "Sams" und "Bibi Blocksberg" mittlerweile Stammgast im Neuen
Deutschen Kinderfilm, gibt einen hinreißenden 'Justus' Boekh, Sebastian
Koch ("Todesspiel", "Der Tunnel", "Die Manns") ist der "Nichtraucher".
Komiker Piet Klocke ist als nicht immer ernstzunehmer, leicht zerstreuter
Schulleiter Kreuzkamm senior zu erleben - und dann ist da vor allem die
Reihe der Jungdarsteller, fast alle zum ersten Mal bei einem Film dabei:
allen voran Hauke Diekamp als Jonathan Trotz, genauso aber seine Clique -
Philipp Peters-Arnolds (als Martin Thaler), Frederick Lau (als Matz
Selbmann), Hans Broich-Wuttke (als Uli von Simmern) und Francois Göske
(als Kreuzkamm junior). Und in die cool-bezaubernde Mona Egerland,
gespielt von Teresa Vilsmaier, muß sich wohl jeder Zwölfjährige im
Publikum verlieben.
Die Handlung wurde ins Leipzig der Jetztzeit verlegt, eine leise
Remineszenz an das lange Zeit geteilte Deutschland eingeflochten, und das
von den Kindern aufgeführte Theaterstück vom "fliegenden Klassenzimmer"
gibt es diesmal, wohl nicht zu vermeiden, als Rap-Musical. Nur selten aber
verirrt sich ein allzu erwachsener Drehbuchsatz in den Mund der Kinder,
meistens sind die Jungs und Mädchen mit all ihren Zweifeln und
Unsicherheiten, Macken und Großmäuligkeiten nicht nur glaubwürdig, sondern
überzeugend. So gelingt Tomy Wigand, von dem man nach seinem Kinodebüt
"Fußball ist unser Leben" alles andere hätte erwarten können, ein
spannender, humorvoller, wunderbarer Familienfilm, ein Plädoyer für die
Freundschaft, das auch Erwachsenen - jenen, die ihre Kindheit nicht "wie
einen alten Hut abgelegt haben" (Kästner), sondern im Geheimen noch mit
sich herumtragen - knapp zwei schöne Kinostunden bescheren kann. Und
Kindern sowieso.
Hartmut Burggrabe
www.das-fliegende-klassenzimmer.de
Das
fliegende Klassenzimmer
von Tomy Wigand - BRD 2003,
110
min |
°°°° |
mit Hauke
Diekamp, Philipp Peters-Arnolds, Frederick Lau, Hans Broich-Wuttke,
Francois Göske, Teresa Vilsmaier, Ulrich Noethen, Sebastian Koch,
Piet Klocke, Anja Kling, Thomanerchor Leipzig |
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