KRITIK

Wahlverwandtschaften an der Oder
"Halbe Treppe" von Andreas Dresen

Wahlverwandtschaften an der Oder. Das alte Motiv - zwei befreundete Paare, die sich plötzlich neu kombinieren - dient als Grundgerüst für diesen Film. Aber: So war das im Kino noch nicht zu sehen.
Erstmal: "Halbe Treppe" spielt in Frankfurt/Oder, jener deutsch-polnischen Grenzstadt, die bislang, seien wir
ehrlich, wenn überhaupt, vor allem die Assozationen trist, grau und Plattenbau hervorrief. Daran ändert dieser Film nicht viel, aber er lädt Frankfurt mit einem wunderbaren spröden Charme auf.
Zweitens: Die vier Protagonisten, Ellen (Steffi Kühnert) und
Uwe (Axel Prahl), Katrin (Gabriela Maria Schmeide) und Chris (Thorsten Merten), sind ungefähr das genaue Gegenteil der Goetheschen feinen Gesellschaft: Uwe betreibt den Würstchenimbiß "Halbe Treppe", Ellen verkauft Parfüm im Einkaufszentrum, Katrin arbeitet derzeit als LKW-Lotsin im Zollgrenzbezirk und Chris führt eine auch nur scheinbar strahlende Existenz als "Magic Chris", als Morgenmoderator des lokalen Radiosenders. Einfache Leute, könnte man sagen, wenn das nicht so herablassend klänge. Denn was diese Vier denken und fühlen, was sie beschäftigt, worüber sie lachen und worüber sie weinen können, das mag in einer anderen Sprache, in einer anderen Sphäre stattfinden als bei jenen Kinofiguren, die sich in schicken Appartements durch ein zeitgeistiges Dasein bewegen - sie sind daher doch nicht weniger wirklich, weniger real. Menschen, die sich mit dem Leben arrangiert haben, die sich auf halber Treppe eingerichtet haben, die von mehr träumen und erschrecken, wenn es tatsächlich zu Veränderungen kommt. Wie Prahl, Kühnert, Merten und Schmeide hier Charaktere entstehen lassen, das ist absolut meisterhaft und überzeugend. Als Zuschauer leidet man mit Katrin und Uwe, als sie von der Affäre ihrer Partner erfahren, man liebt gleichzeitig mit Ellen und Chris; man lacht über die Running Gags (Stichwort: Straßenmusiker) und Uwes extrem trockenen Humor. Man genießt die unglaubliche Genauigkeit der Gefühle und Regungen, die Feinheit der Beobachtungen. Kaum zu glauben, daß dem nuancierten Spiel des Ensembles nicht etwa ein durchkonstruiertes Drehbuch zugrundeliegt, sondern daß Figuren und Handlung von den Schauspielern zusammen Regisseur Andreas Dresen ("Nachtgestalten") entworfen und entwickelt wurden. Sämtliche Szenen wurden improvisiert, und vielleicht konnte nur so diese Dichte, Intensität und Glaubwürdigkeit entstehen, die "Halbe Treppe" so ungewöhnlich macht. Es mag abgegriffen klingen, hier stimmt es: Selten ist Kino so nah an der Wirklichkeit. Es gibt viel zu lachen und viele Denkanstöße. Kein reines Melodram, keine reine Komödie, sondern einfach: Leben.
Hartmut Burggrabe

P.S. Nach dem Triumph von 'Halbe Treppe' auf der Berlinale im Februar 2002 - Publikumsliebling und schließlich sogar mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet - wurde Andreas Dresen soeben auch für den Europäischen Filmpreis nominiert - in der Kategorie Beste Europäische Regie.
 

Halbe Treppe
von Andreas Dresen - BRD 2002, 105 min - Musik: 17 Hippies

°°°°°

mit Steffi Kühnert (Ellen), Gabriela Maria Schmeide (Katrin), Axel Prahl (Uwe), Thorsten Merten (Chris)

was bedeutet
unsere Wertung?

 

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Copyright 2002 by Filmaktuell.com