KURZKRITIK

Wenn Grundrisse wegbrechen
"Der Felsen" von Dominik Graf

Ein Film wie Erinnerungen an einen Traum. Mit Katrin (Karoline Eichhorn) taumeln wir durch einige Tage auf Korsika, wo sie mit ihrem Chef und Geliebten letzte gemeinsame Tage verbringt. Denn seine Frau ist schwanger. Zunächst versucht man es noch
gemeinsam - viele Abschiede: ein letzter Kuß, oder doch erst ein vorletzter, die letzte gemeinsame Nacht?
Katrin bleibt schließlich alleine im Hotel zurück und hat noch zwei Tage, bis ihr Flieger geht. Was ist da noch, was Halt gäbe? Karoline Eichhorns Gesicht verbirgt keine Regung, ihre Katrin ist offen, verletzlich, trägt nicht die übliche Schutzhülle, die jeder um sich
einrichtet, um die Seele vor größeren Erschütterungen und Angriffen zu bewahren. Bis auf die Hoffnung auf diese Liebe scheint ihr nicht viel zu bleiben. Was also tun mit den verbleibenden Tagen? In sich verkriechen, im Hotel auf Eingebungen warten, wie es weitergehen könnte? Katrin läßt sich treiben, in den Abend, in die Inselsphäre, gerät an einen jungen Deutschen, der sich in sie verliebt. Er siebzehn, sie Mitte Dreißig. Katrin weist ihn nicht zurück und läßt sich nicht auf ihn ein. Katrin geht einfach vorwärts, ohne zu wissen, wohin. Malte, stellt sich heraus, lebt in einem Resozialisierungscamp für junge Straffällige. Das schreckt Katrin nicht. Wenn kein Halt mehr da ist, was soll dann vernünftiges Abwägen - zu solchem fehlt Katrin die Kraft. Und doch bewegt sie sich traumwandlerisch sicher durch die Tage und Nächte und die beleibe nicht immer freundlich gesonnene Umwelt. Schlicht und direkt steht sie bei allem Schwanken fest in der Welt.
Dominik Graf, 1988 für "Die Katze" mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet, hat nach fast zehn Jahren Fernsehen wieder einen Film fürs Kino gemacht. Ein Film, der wohl nur im Kino funktioniert und doch auf jegliche gewohnte Kinoästhetik verzichtet. Gefilmt wurde mit digitaler Handkamera. Die offenen, verwaschenen Farben verstören nur kurz, vielmehr verstärken sie aber das Rauschhafte, Traumartige. Immer wieder gibt es Schwarzblenden, kurze Pausen, in denen man als Zuschauer dem Gesehenen nachfühlen, nachdenken kann. Und schließlich sind da zwei Off-Stimmen, ein Mann und eine Frau, die die Zufälligkeit des Geschehens immer wieder bewußt halten: "Sie könnte jetzt auch den anderen Weg nehmen. Wie würde es weitergehen?" Diese Stimmen, zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig, manchmal etwas sehr bedeutungsschwanger raunend, verhindern, daß man als Zuschauer ganz in die Atmosphäre abtaucht und einfach nur mitlebt. Stattdessen halten sie uns immer wieder auf Distanz, betonen das Experimentelle dieser Handlung, dieser Art Versuchsanordnung, und schärfen so die Sinne.
Auf der diesjährigen Berlinale erntete "Der Felsen" unterschiedlichste Reaktionen - von verstörter Empörung über verständnislose Verrisse bis zu emphatischem Lob. Klar ist: Dominik Grafs essayistischer Erzählstil geht zunächst gegen eingeprägte Kinogewohnheiten, "Der Felsen" fordert einen als Zuschauer. Darin liegt aber auch seine absolute Stärke: "Der Felsen" baut keine Parallelwelt auf, in der Ereignisse aufeinander aufbauen und jede Handlung eines Protagonisten in eine übergeordnete Drehbuchlogik eingeordnet ist. Stattdessen spüren Graf und seine umwerfend präsente Hauptdarstellerin der Brüchigkeit des Lebens nach, mit der es wohl jeder, mal mehr, mal weniger, immer wieder zu tun bekommt. Wenn Grundrisse sich verschieben oder gar zu verschwinden drohen, bringt das ins Schwanken, macht aber auch frei für neue Räume.
Guido Schenkel 

 

Der Felsen
von Dominik Graf - BRD 2002, 127 min

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mit Karoline Eichhorn, Antonio Wannek, Ralph Herforth, Peter Lohmeyer, Soraya Gomaa

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