Last der
Tradition, Lust der Freiheit
"Hinter der Sonne" von Walter Salles (ab 11.4.)
"Auge um Auge, sagt mein Vater. Für eins von uns nehmen wir eins von
ihnen. Für eins von ihnen nehmen sie eins von uns. Und immer so weiter.
Bis schließlich alle blind sind. Im Land der Blinden gelten die Einäugigen
als verrückt." Irgendwo auf dem Land in Brasilien. Tonho und sein kleiner
Bruder, der nur
'Kleiner'
genannt wird, leben mit ihren Eltern auf einem ärmlichen Hof. Eine
ochsenbetriebene Zuckerrohrmühle ist alles, was der Familie vom einstigen
Großgrundbesitz geblieben ist. Die verfeindete Familie hat das Land in
Besitz genommen, seit Generationen gibt es nun eine Fehde. Ein Mitglied
der einen Familie wird getötet - dafür stirbt wenig später der, der
ebendiese Tat ausgeführt hat. Blutrache. Mit festen 'Regeln'. Nach denen
nun Tonho an der Reihe ist: Ignacio, der älteste Bruder, wurde vor kurzem
von den andern ermordet. Tonho bricht also auf, den Mörder zu finden
und... Allein die Zweifel, die Fragen des kleinen Bruders bringen Tonho
zum Nachdenken. Macht es wirklich Sinn, dieses nie endende "Auge um Auge"?
Tonho wird natürlich das Opfer der nächsten Vergeltung sein. Bis zum
nächsten Vollmond bleibt Zeit. Ein Rest-Leben. Das Tonho weiter damit
verbringen wird, Rohrzucker zu schneiden, Rohrzucker in die Mühle zu
pressen, das Dach des Hofes auszubessern... "Wir sind wie die Ochsen",
sagt der kleine Bruder einmal. "Wir laufen immer im Kreis und kommen
nirgendwohin."
Doch die Sehnsucht bricht in das mürbe Leben. Zuerst für den 'Kleinen'.
Ein Zirkus-Paar fragt ihn nach dem Weg, die junge Frau schenkt ihm zum
Dank ein Buch. Der 'Kleine' ist infiziert: lesen kann er zwar nicht, aber
die Bilder versteht er. Und die freundlichen Blicke der Frau, die versteht
er auch. Begeistert schwärmt er Tonho vor - zusammen beschließen sie,
heimlich in der nahen Stadt den Zirkus zu suchen. Den Zirkus und die
'Meerjungfrau'.
Der Brasilianer Walter Salles hat nach seinem weltweiten Erfolg "Central
Station" (Central do Brasil) wieder einen Film über Aussichtslosigkeit,
Armut, Rastlosigkeit, Sehnsucht und Liebe gemacht - und er ist trotz
seiner zunächst bedrückenden Thematik vor allem eins: bezaubernd. Das
liegt zum einen an den zugleich herben wie schönen Bildern, dem Licht und
der Landschaft. Zum anderen an den Momenten, in denen die Sehnsucht, die
Leichtigkeit sich Bahn bricht im Leben der beiden Söhne - ohne aber ins
Kitschige, ins Aufdringlich-Pathetische zu verfallen: das Schaukeln in den
wenigen freien Momenten, die Flugkünste der Zirkusartistin.
Und dann ist da der wirklich bravouröse Darsteller des 'Kleinen', der uns
durch den Film führt, der sich mit rauschhafter Phantasie Geschichten
ausdenkt, der mit wenigen Worten, oft nur mit Nuancen im Blick, in der
Gestik, die volle Bandbreite des Fühlens und Erlebens zum Ausdruck bringt:
vom Zweifel bis zur Hoffnung, von der Angst bis zur Gelassenheit, von
Trauer bis Lebenslust.
"Hinter der Sonne" ist unbedingt sehenswert - und wer die Möglichkeit hat,
sollte ihn als Original mit Untertiteln anschauen. Die Untertitel sind
schnell zu begreifen und hindern nicht am Genuß - im Gegenteil: der Klang
des brasilianischen Portugiesisch trägt wesentlich zur rauhen Schönheit
des Films bei.
Hartmut Burggrabe
Hinter der
Sonne
von Walter Salles -
Brasilien/Schweiz/Frankreich
2001, 105 min |
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mit José
Dumont, Rodrigo Santoro, Rita Assemany, Luiz Carlos Vasconcelos,
Ravi Ramos Lacerda, Flavia Marco Antonio |
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